Eine Weihnachtsgeschichte von Ralph von Rawitz.
in: „Auer Tageblatt und Anzeiger für das Erzgebirge” vom 18.12.1909
Das große Opernhaus der Residenz war nicht gut besucht. Solche Leere des berühmten Theaters konnte nicht wundernehmen; zeigte doch der Kalender den 23. Dezember, und wer hat am Tage vor Weihnachten wohl Zeit, an andere Dinge zu denken, als an Tannenbaum, Festtagsbraten, Kuchen, Marzipan und Geschenke? — Mochten aber immerhin die Musikfreunde nicht der gewohnten Zahl erschienen sein, der Applaus, der jetzt erscholl, war nicht schwächer, als an anderen Abenden. Die Sänger mußten mehrmals vor dem Vorhang erscheinen, und auch der Dirigent verneigte sich von seinem Pult aus, als begeisterte Stimmen seinen Namen riefen. Dann senkte sich der Eiserne — die Meistersänger waren zu Ende. Hugo Lindenberg legte den Taktstock in den Notenkasten und klappte die Partitur zu, als ein Theaterdiener an ihn herantrat: Seine Exzellenz lassen bitten.
Fünf Minuten später stand der junge Mann vor der alten Exzellenz, die mit verbindlicher Handbewegung auf einen Sessel wies und dann, das Goldmonokel einkneifend, die Unterhaltung eröffnete: Ich habe heute den Meistersängern beigewohnt, Herr Lindenberg, und bin in der vorigen Woche natürlich auch im Figaro und in Carmen gewesen. Auf Grund dieser persönlichen Wahrnehmungen in erster Linie, sodann aber auch, weil die Kritik über die beiden letzterwähnten Aufführungen sich mit seltener Einstimmigkeit lobend geäußert hat, bin ich gern bereit, einen zehnjährigen Kontrakt zu unterschreiben. Die Bedingungen wären dieselben, wie Ihr ausscheidender Herr Kollege sie genießt. Sind Sie einverstanden? — Ob er wohl einverstanden war! Mit 25 Jahren Kapellmeister der Großen Oper, 15000 Mk. Gehalt, ein Vierteljahr Urlaub! Mit 25 Jahren eine Kapazität in der Residenz, ein Liebling des Publikums! Der Kopf schwindelte ihm von Glück und Frcude. Der alte Herr sah es, lächelte, nahm aus der dimantenbesetzten Dose eine Prise und sprach: Also abgemacht! Vom 1. Januar ab! Für die Festtage will ich Sie nicht binden; Sie werden doch wahrscheinlich zu den Ihrigen fahren, um sich a!s neugebackener Hofkapellmeister vorzustellen. Und nun hoffe ich ein gedeihliches Zusammenarbeiten. Auf Wiedersehen, verehrter Herr Lindenberg! —
Wie er auf die Straße gekommen, wohin er schritt, Hugo wußte cs selbst nicht. So war denn das Ziel seiner kühnsten Wünsche erreicht. Alles was er gehofft, in Erfüllung gegangen. Alles? Nein! Plötzlich überfliegt das Gesicht, das soeben noch gestrahlt hat, tiefer Ernst. Und daran denke ich erst jetzt! murmelte der junge Mann. O, Selbstliebe! Am Taumel des erstem Glückes habe ich alles vergessen. Alles, was mich bedrückt.
Eine Viertelstunde schreitet er in tiefen Gedanken dahin, endlich ist er zu einem Entschluß gekommen. Er orientiert sich flüchtig, welchen Weg er eingeschlagen hat, tritt fragend an einen Schutzmann und sucht dann, nachdem ihm Bescheid geworden, eine Postanstalt auf. Dort wird ein langes Telegramm befördert, und erst danach führt sein Weg in das bekannte Stammlokal, wo ihm eine jubelnde Tafelrunde (darunter auch der Walter Stolzing und Hans Sachs der heutigen Aufführung) mit schäumenden Krug begrüßen: Willkommen, Verehrtester, willkommen, jüngster aller taktschlagenden Künstler! Kinder — eine Lage Sherry-Brandy! Ehrt eure deutschen Meister! Auch die Kapellmeister — prost!! So erscholl es durch die gemütlichen Räume, und noch lange nach Mitternacht pokulierte dort das frohe Völkchen zu Ehren seines neugebackenen Kollegen. — —
Im Pfarrhause des Dörfchens, das sich hinter dem großen Wald und schneebedeckten Hügel hinzog, waren die Bewohner früh auf den Beinen. Pastor Fliedner schrieb an einer Predigt — er mußte deren in den Festtagen nicht weniger als drei halten — die Pastorin schaltete und waltete emsig in der Küche. Marie aber, die Tochter des Hauses, putzte den Baum. Soeben wollte sie einen großen Stern an der Spitze der Tanne befestigen, als draußen vor dem Fenster der Schnee unter den kräftigen Schritten eines Mannes knirschte. So gut sie es durch die gefrorenen Scheiben vermochte, spähte sie hinaus, sah aber nichts weiter, als einen großen Bart und eine Dienstmütze. Sonderbar, sprach sie vor sich hin, daß der Martin heute schon früh mit den Briefen erscheint. — Aber ist denn das überhaupt seine Stimme — da im Hausflur? Oder sollte das etwas anderes — Hoffentlich nichts Unangenehmes! — Während sie noch darüber nachdachte, war der Depeschenbote in das Arbeitszimmer des Pastors getreten, der mit regem Interesse ein Telegramm entgegennahm und durchflog, dann aber auch sofort eine längere Antwort aufsetzte, welche der Beamte wieder mit sich nahm. Als er fort war, flog Marie in das Arbeitszimmer ihres Vaters: Doch nichts Unangenehmes, Pap'chen? — Der alte Herr, streichelte ihr über die blonden Flechten, machte eine geheimnisvolle Miene und lachte: O, diese Evastochter! Neugierig wie ein Spitzmäuschen! Warum willst du denn wissen, was im Telegramm steht — Ach — ich frage ja nur so — — Papa! — Jawohl — du fragst nur so — wie aus christlichem Mitgefühl. Aber Weihnachtszeiten sind Ueberraschungszeiten — diesmal wird nichts verraten! Und damit holla! Gib mir die Pfeife und spaziere ab! Aber halt — einen Gefallen kannst du mir wohl erweisen. — Gern Papa. — Du springst wohl einmal im Laufe des Vormittags zum Nachbar hinüber? Zu Amtsrat Lindenberg? — Du wirst einen schönen Gruß an den Herrn Amtsrat und seine liebe Frau und auch an deine Freundin Aennchen bestellen und sagen, ich würde mich so sehr freuen, wenn sie heute abend um 6 Uhr zum Weihnachts-Gottesdienst kämen. Ich hätte eine extraschöne Predigt in petto, und es wäre schade, wenn sie die versäumten.
Am Nachmittag dieses Tages gab es im Pfarrhausse ein gegenseitiges Versteckspielen. Die Pastorin packte still und heimlich ihre aus der Stadt besorgten Geschenke aus, Marie arrangierte verstohlen einige Stickereien für die Eltern unter der Tanne, der Pastor aber schlich leise zur Gartenpforte hinaus und begab sich zum Kantor, der soeben Besuch erhalten hatte. Ein schlanker Herr im eleganten Gehpelz war dort abgestiegen. Mit ihm und dem Kantor hatte der Pfarrer eine kurze Zwiesprache, die zu allseitiger Zufriedenheit endigte, denn die drei Männer schüttelten sich die Hände, lächelten und nickten. Etwa um dieselbe Stunde saß die Familie des Amtsrats Lindenberg beim Kaffee. Der Amtsrat selbst schritt, dicke Wolken aus einer kurzen Pfeife rauchend, durch das Zimmer. Zwischen den drei Personen fiel kein Wort. Zuweilen schlug draußen der Hofhund an; dann sahen die Frauen flüchtig auf um sofort wieder die Gesichter über den Tisch zu beugen. Dem Amtsrat begann das Schweigen zu ärgern. Ich bitt' euch — redet etwas! Was laßt ihr die Nasen hängen? Geschehene Dinge sind nicht zu ändern. Ich habe es überwunden, ihr werdet es auch überwinden. Wir haben schon fünf Jahre allein gefeiert — dann wird das sechste wohl auch vorübergehen. — Aennchen zog leise das Taschentuch und fuhr über die Augen. Der Vater sah es und fuhr ärgerlich fort: Laßt das Geplinze! Hätt' ich damals nachgegeben, dann zöge der Junge jctzt mit dem Leierkasten von Hof zu Hof — dideldum — didelum —, besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende! Mein Sohn Orgeldreher, mein Sohn Kollege von Slowaken und Jtaliani, mein Junge Bierfiedler — heiliges Bomben-Element, wenn ich daran denke, faßt mich immer wieder der Zorn. Hatte das Staatsexamen beinahe in der Tasche, könnte jetzt wohlbestallter Prediger sein — nein, muß der Musik nachrennen. — Hört auf mit dem Gejammer — übrigens ist es auch bald Zeit, in die Kirche zu gehen! Er schritt hinaus und ließ die Frauen mit verweinten Gesichtern zurück. —
Die hübsche Dorfkirche war dicht gefüllt. Unten zur Linken im Herrschaftsstuhl saßen Amtsrats und daneben der nächste Gutsnachbar, ein Graf mit seiner Familie. Zur Rechten hatten die Pächter und Inspektoren, dahinter die Kossäten und Büdner, hinten die Mägde und Knechte Platz genommen. Dicht neben dem Altar saß auch, die Hornbrille auf der Nase, der Kantor. Nun, Pielemann, rief ihm leise der Amtsrat zu, heute nicht oben am Pfeifenkasten? Wie geht das zu? Will auch meine Weihnachtsferien haben, gab der Alte lächelnd zurück, ist ein tüchtiger Vertrerer zur Stelle. Hören Sie mal gut zu, Herr Amtsrat, ich vermein', es wird ein Stücklein schöner Festmusik werden, vielleicht vom Altmeister Bach oder von sonst einem trefflichen Tonsetzer. — Der schlichte Eingangschoral begann; hundertstimmig fiel die andächtige Gemeinde ein. Dann betrat Pastor Fliedner die Kanzel und verkündete die Heilsbotschaft, die allem Volk widerfahren: Ehre sei Gott in der Höhe, und Frieden auf Erden! Als er mit Gebet und Segen geendet, war eine kleine Stille. Dann aber begann droben auf der Orgel ein Singen und Klingen, Jubeln und Jauchzen. In gewaltigen Akkorden schwoll es an, in reichen Harmonien brauste es durcheinander, in schmeichelnder Süße und Innigkeit verklang es. Zuletzt nur noch eine vibrierende Flöte, die leise das alte Volkslied flüsternd paraphrasierte: Ein Wandersmann, den Stab in der Hand, kehrt heim. —
Der Gottesdienst war beendet, die Gemeinde erhob sich, aber niemand ging. Alle sahen sie hinauf nach der Orgeltreppe, die jetzt ein junger Mann zögernd herabkam, dem Pastor Fliedner entgegengeschritten war. Der führte ihn mitten durch alles Volk zu dem alten Graukopf, der mit eiserner Miene dem Kommenden entgegensah. Aber jetzt weicht die Strenge in seinem Antlitz, wundersam kämpfen Zorn und Rührung, Stolz und Liebe, während es von Mund zu Munde geht: Amtsrats Hugo, der damals weggelaufen ist — Amtsrats Jüngster ist wieder da. — Der kurze Widerstreit der Empfindungen ist zu Ende, das Vaterherz hat gesiegt: Na komm her, Junge,” sagt der Amtsrat, dem Sohn die Arme öffnend, „Orgelspielen kannst du, das ist schon wahr; wenn Pielemann einmal in Pension geht, nehmen sie dich vielleicht zum Nachfolger — Der Kantor schmunzelt: War mir schon eine große Ehr', daß der Herr Hofkapellmeister an meiner Orgel gesessen hat. Der Amtsrat macht große Augen: Hofkapellmeister? — Und 15 000 Mark Gehalt, fügt der Kantor hinzu, gerade zehnmal soviel als ich. — Nun nimmt auch Pastor Fliedner das Wort: Ja — die liebe Musik! Sie, verehrtester Amtsrat, haben immer nur an unsere Hofmusikanten, mit Drehorgel und Fiedel, gedacht; aber es gibt auch andere. Und wenn so ein Hofmusikant aus tiefem Herzen den Beethoven oder den lieben Mozart musiziert, dann ist das dem alten Herrgott ebenso lieb, wie eine Festtagspredigt. Seien Sie zufrieden, Freund, mit dem, was Ihnen heut beschert wurde. — Run geht es an ein Händeschütteln durch die ganze Gemeinde, und dann wandelt alles durch die sternenklare Winternacht der heimischen Tanne zu. Das letzte Paar ist Hugo und die liebliche Marie Fliedner. Sie sprechen nichts, aber die Hände haben sich gefunden, und ihr leiser Druck redet von alter nie vergessener Lieb' und Treue. Vor dem Pfarrhof trennen sie sich: Auf Wiedersehen morgen! — Und frohes Christfest uns allen!
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